Es war ein Paukenschlag. Mitte Mai trennte sich Olympiasiegerin Kaylia Nemour von ihren langjährigen Trainer*innen Marc und Gina Chirilcenco und ihrem Heimatverein Avoine-Beaumont.

Die Nachricht hatte deutlich mehr Brisanz als ein normaler Wechsel, war doch das Festhalten an Chirilcenco und Avoine der Grund für Nemours Wechsel nach Algerien gewesen. 2006 als Tochter einer Französin und eines Algeriers in Frankreich geboren, besitzt sie beide Staatsbürgerschaften. Als Juniorin war sie für Frankreich erfolgreich, 2021 wurde sie französische Meisterin am Barren. Im selben Jahr musste sie sich zwei Knieoperationen unterziehen. Und dann wurde es kompliziert.

Nemours Arzt gab ihr grünes Licht für eine Fortsetzung der Karriere, der Arzt des französischen Verbandes nicht. Der Verband verlangte zudem, dass sie ihr Training in ein nationales Trainingszentrum verlege. Auch mit den Trainingsmethoden der Chirilcencos war man nicht einverstanden. Familie Nemour entschloss sich zum Wechsel nach Algerien.

Nach Wechsel gesperrt

Offiziell bestätigt wurde der Wechsel von der FIG im Juli 2022, allerdings mit einer einjährigen Sperre, da der französische Verband Nemour nicht freigab. Somit nahm man ihr die Chance, sich für die WM 2023 zu qualifizieren, wo ein Großteil der Olympiatickets vergeben wurde. Eine Online Petition von Mutter Stéphanie, zu dem Zeitpunkt Präsidentin des Turnvereins in Avoine, und viel Wind in den französischen Medien später lenkte der Verband ein und erteilte die Freigabe. Nemour gewann bei der WM 2023 Silber am Barren und wurde in Paris Olympiasiegerin an diesem Gerät.

Der französische Verband änderte seine Haltung zu Chirilcenco, der Nemour in Paris für Algerien betreute, jedoch nicht. Man sah ethische Standards verletzt. Und nahm damit auch den Verlust einer möglichen Medaille in Kauf.

Ein knappes Jahr später dann die Trennung Nemours von den Chirilcencos. Eine Nachricht, die in der französischen Turnszene hohe Wellen schlug. Nach der Bekanntgabe hatte sich die Turnerin zunächst nicht öffentlich geäußert. Mitte Juli erschien dann ein Interview mit SpotGym und L’Equipe, das es in sich hatte. „Ich war emotional am Ende. Ich trainierte unter Bedingungen, in denen ich mich selbst nicht mehr wiederfand, und irgendwann sagte ich Stopp!“, erklärte sie ihren Entschluss. „Ich bin reifer geworden und habe gemerkt, dass die Trainingsmethoden nicht mehr mit meinen Werten übereinstimmen und auch nicht mehr meinem Alter entsprechen.“

Kontrolle und Geschrei

Es habe eine extreme Kontrolle geherrscht und die Turnhalle war kein Ort mehr, an dem sich Kaylia Nemour wohlfühlte. „Es ist wichtig für mich, dass ich nicht mehr mit einem Kloß im Hals zum Training gehe. Ich möchte Spaß am Training haben, auch wenn das Spitzensportniveau eine gewisse Strenge erfordert. Ich möchte anders trainieren. Ich wusste, dass ich keine Leistung mehr erbringen würde, wenn ich in dieser Atmosphäre mit viel Geschrei blieb.“

Nemour sagt, sie habe das Gespräch gesucht und versucht, die Probleme anzusprechen. „Wir hatten mehrere Besprechungen, in denen mir gesagt wurde: „Ich muss mich nicht ändern und werde mich auch nie ändern.“ Ich verbrachte Trainingseinheiten ohne jegliche Anweisungen, sie [die Chirilcencos] waren von einem Extrem ins andere gefallen und schenkten mir schließlich keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Es war mir unmöglich geworden, unter diesen Bedingungen weiter zu trainieren.“ Rückblickend habe sie ihre Olympiamedaille gewonnen, „indem ich das Inakzeptable akzeptiert habe.“

Kritik von Dufournet

Es gab auch Kritik an Nemour für den Wechsel und ihre Aussagen. So schrieb Youna Dufornet auf ihrem Instagram Account, sie sei empört über die Vorwürfe: „Es macht mich wütend zu sehen, dass man Trainer, die uns geholfen haben, das höchste Niveau zu erreichen und die schönsten Medaillen zu gewinnen, so schamlos herabwürdigt. Hochleistungssport ist hart, um Medaillen zu gewinnen, muss man Opfer bringen, jeden Tag kämpfen, Momente des Zweifels durchstehen, Grenzen überschreiten, die man nie für möglich gehalten hätte, und um jeden Preis für seinen Traum kämpfen. Marc und Gina waren und sind noch immer alles für mich.“ Dufournet gewann bei der JEM 2008 in Clermont-Ferrand fünf Medaillen, darunter zweimal Gold. Bei der WM 2009 in London holte sie Bronze am Sprung.

Der Verein stellte sich in einer Erklärung hinter das Ehepaar Chirilcenco.

Gerüchten, dass sie die Chirilcencos angezeigt hätte, widersprach Nemour. Sie habe allerdings am 24. Mai bei der Polizei ausgesagt, die sie im Zusammenhang mit einer laufenden Ermittlung vorgeladen hatte. „Ich habe die Fragen beantwortet und die Wahrheit über meine Erfahrungen gesagt. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass eine Anhörung eine sehr ernste Angelegenheit ist und dass Falschaussagen schwerwiegende Folgen haben können. Aus Respekt vor den Gesetzen, den persönlich Betroffenen, aber auch vor mir selbst habe ich ehrlich geantwortet.“

Nemour ist inzwischen nach Dijon gewechselt, wo sie von Nadia Massé, die seit 2012 ihre Choreografin ist, trainiert wird. Ihre Familie wird diesen Sommer ebenfalls umziehen. Mit ihrer neuen Trainerin gewann sie beim World Challenge Cup im Juni in Taschkent die Titel am Barren und Balken.

Der französische Verband sperrte Gina Chirilcenco für die anstehenden EYOF. Topfavoritin für EYOF ist Elena Colas, die mit Nemour zusammen in Avoine trainierte. Colas gewann letztes Jahr bei der JEM in Rimini Gold mit der Mannschaft, im Mehrkampf und am Barren und gilt als kommender Star.

Man sei sich bewusst, dass die Entscheidung für einige Turnerinnen schwer wäre, aber „keine Medaille wird jemals Schweigen, Kompromisse oder Leiden rechtfertigen. Kein Druck, keine Taktik, kein Angriff wird uns zurückschrecken lassen. Unsere Verantwortung ist klar: Wir müssen die Turnerinnen und Turner heute und in Zukunft schützen“, heißt es in der von Verbandspräsidentin Dominique Merieux unterzeichneten Erklärung.

Avatar von Leonie GymNews

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