Von Sandra Schmidt
Zwei Wochen sind vergangen, seit der italienische Turner Lorenzo Bonicelli beim Abgang von den Ringen während der Universiade schwer gestürzt ist. Die jüngste zuverlässige Information stammt vom 31. Juli, als der italienische Turnverband nach einem Treffen von Professor Andrea Ferretti, Präsident der Medizinischen Kommission des Verbandes, mit den behandelnden Ärzten im Universitätsklinikum Essen Folgendes mitteilte: Bonicelli zog sich bei seinem Sturz ein „Trauma der Halswirbelsäule mit Subluxation des fünften Wirbels“ zu. Er befinde sich in einem guten Allgemeinzustand, hieß es weiter, um ihm die Atmung zu erleichtern, wurde ein Luftröhrenschnitt vorgenommen. Was seit diesem Treffen leider auch gewiss ist: „Eine neurologische Schädigung, deren Ausmaß momentan noch nicht bestimmbar ist, existiert.“ Bonicelli wird weiterhin in Essen behandelt.
Der 23-jährige Lorenzo Bonicelli aus Abbadia Lariana am Comer See startet für den Verein Ghislanzoni Gal di Lecco und trainiert im regionalen Zentrum in Seveso unter Pamela Cauli und Paolo Quarto. In der Vergangenheit war er als Gastturner für den MTV Ludwigsburg auch in der deutschen Bundesliga an die Geräte gegangen. 2019 gewann er mit dem italienischen Team Bronze bei der Junioren-WM, 2023 stand er als Ersatzturner im Aufgebot für die WM in Antwerpen. Den Dreifachsalto als Abgang beherrschte Bonicelli nicht nur an den Ringen, sondern auch am Reck. Hier präsentierte er ihn zum Beispiel beim diesjährigen Weltcup in Cottbus, wo er im Finale Vierter wurde.
Wegen einer kleinen Verletzung war der Student der Wirtschaftswissenschaft nicht für die Europameisterschaft in Leipzig nominiert worden und wollte sich bei der Universiade auf sein nächstes großes Ziel vorbereiten: Die Qualifikation für die Einzel-WM in Jakarta im Herbst.
In Essen war ihm – so beschreibt es ein Kampfrichter, der vor Ort war – während der drei Drehungen eine Hand vom Knie gerutscht. Dadurch verlangsamte sich die Rotation, zusätzlich brachte der Arm ohne Halt in der Luft ihn aus der Längsachse. Bonicelli schlug nach zweieinhalb Salti schräg mit Kopf, Nacken und Schulter auf die Matte auf. Er habe vor Schmerz geschrien, sei bei Bewusstsein gewesen und habe sich mit dem herbeieilenden medizinischen Personal ausgetauscht. Begleitet von Trainer Roberto Germani wurde Bonicelli ins nahe gelegene Universitätsklinikum nach Essen gebracht und noch am gleichen Abend operiert. Die beiden anderen italienischen Turner, Riccardo Villa und Niccolò Vannucchi, traten nach dem Unfall an den verbliebenen Geräten nicht mehr an. Das Universitätsklinikum Essen erklärte zwei Tage nach der Operation, Bonicelli sei „außer Lebensgefahr“, werde intensivtherapeutisch betreut und seine Familie sei bei ihm.
Andrea Facci, Präsident des Italienischen Verbandes, erklärte am 26. Juli gegenüber der Nachrichtenagentur ANSA: „Wir sind extrem besorgt, ich werde morgen nach Essen fliegen, um das einzige zu tun, was ich momentan tun kann, nämlich Lorenzo und seinen Eltern nah sein.“ Facci war in den vergangenen zwei Olympiazyklen Teammanager der italienischen Männerauswahl, kennt Bonicelli daher gut: „Bonni ist stark!“ gab er sich im Interview optimistisch.
Nach den neuen Wertungsvorschriften werden extrem schwierige Abgänge vom Gerät zusätzlich belohnt: Die Wertigkeit des Elementes geht doppelt in die D-Note ein. Zudem wurde der Dreifachsalto an den Ringen von einem F zu einem G-Element aufgewertet, ist also nun 1,4 Punkte wert. Auch wenn Lorenzo Bonicelli den Abgang beherrschte, ist fraglich, inwiefern diese Neuerung im Code dazu führt, dass Turner ein höheres – und eventuell auch ein zu hohes – Risiko eingehen, um die Schwierigkeit ihrer Übung zu steigern. Andere Neuerungen, wie die Einführung eines Bonus von einem Zehntel für perfekt gestandene Abgänge, hingegen betonen die Bedeutung der Ausführung. Yuri Chechi, Olympiasieger an den Ringen von 1996, erklärte gegenüber der FAZ:
„Mein Eindruck ist, dass man im Weltverband keine klare Idee hat, wie das Turnen in 20 Jahren aussehen soll. Soll es immer spektakulärer werden oder künstlerischer? Alle vier Jahre gibt es Neuerungen, aber eine Vision kann ich nicht erkennen.“ Den Unfall von Bonicelli nannte er ein
„ein schicksalhaftes Unglück“.
Paolo Gilardoni, Präsident von Bonicellis Verein in der Lombardei hat unter dem Hashtag #insiemeaBonni auf der Plattform Gofundme eine Spendenseite eingerichtet.

Dort heißt es: „Jetzt ist es an der Zeit, ihm etwas von dem Guten zurückzugeben, das er immer anderen geschenkt hat. Der Weg zur Genesung wird lang und herausfordernd sein, daher kann jeder Beitrag einen Unterschied machen: um ihm die bestmögliche Behandlung zu sichern, ihm Kraft zu geben und dabei zu helfen, nach vorne zu schauen.“ Bislang kamen rund 117 000 Euro zusammen, das Spendenziel liegt bei 140 000 Euro.

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