Die Nachricht war schon seit Wochen im Umlauf, jetzt ist es offiziell: Angelina Melnikova wird für Tittmoning-Chemnitz Bundesliga turnen. Damit hat der Tabellenführer, der zuletzt immer auf die eigene Kraft vertraute, einen echten Coup gelandet. Man scheint nun dem Beispiel Stuttgarts, in letzter Minute einen internationalen Star aus dem Hut zu zaubern, zu folgen. Ein solches Kaliber wie Melnikova hat die DTL allerdings bei den Frauen selten gesehen.


Melnikova ist nicht nur die amtierende Weltmeisterin im Mehrkampf und Team-Olympiasiegerin von Tokio, sondern seit Jahren eine der Granden des aktuellen Turnsports. 2014 gewann sie als 14-Jährige in Sofia JEM Gold, stand dann 2016 bereits in der russischen Olympiariege von Rio, die Silber gewann. Danach war sie bei allen großen Wettkämpfen dabei – bis zu dem ikonischen Moment, als sie als letzte Turnerin das Mannschaftsgold in Tokio für Russland, damals unter dem Kürzel ROC, klarmachte. Im Nachgang der Spiele gewann sie bei der WM in Kitakyushu Mehrkampfgold.

Dann folgte der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und die Sperre Russlands. Seit Anfang 2024 lässt die FIG belarussische und russische Turner*innen als neutrale Einzelathlet*innen zu. Russlands Turnverband verweigerte aber lange die Teilnahme, da man die Bedingungen ablehnte und es vorzog, auf die Olympischen Spiele 2024 zu verzichten. Anfang 2025 dann eine Kehrtwende, es wurden plötzlich Anträge auf den neutralen Status gestellt. Dann folgte ein absurdes Irrlichtern bis hin zur WM-Teilnahme in Jakarta.

„Das Knie hält“

Melnikovas Rückkehr auf die internationale Bühne – nun unter dem Kürzel AIN – war mehr als beachtlich: Gold und Silber beim Challenge Cup in Paris, zweimal Gold und einmal Silber bei der WM in Jakarta. Die 25-Jährige ist ein grandiose Turnerin, die sich von einer unscheinbaren 16-Jährigen zu einer echten Persönlichkeit entwickelt hat. Sie betreibt eine eigene Turnschule, hat bereits Schauspielerfahrung gesammelt und spricht mittlerweile fließend Englisch. In Jakarta zeigte sie erstmals seit den Olympischen Spielen in Tokio wieder den Cheng. „Ich war vor dem Sprung so nervös“, sagte sie nach der Qualifikation. „Ich hatte ihn so lange nicht im Wettkampf gezeigt! Nachdem ich in Paris [beim Challenge Cup] war, habe ich begriffen, dass ich diesen Sprung zeigen muss, wenn ich am Sprung gewinnen will.“ Kurz vor der WM erklärte Melnikova auf ihrem Telegramm-Kanal, dass sie an einem Ermüdungsbruch im Schienbeinkopf leide, aber trotzdem in Jakarta starten werde. Vor Ort kam sie mit getaptem Knie durch alle Wettkämpfe. „Das Knie hält“, sagte sie auf Nachfrage.

Der Erhalt des neutralen Status wirft bei Melnikova allerdings Fragen auf. Die Anträge auf den Status werden von einer externen Agentur bearbeitet, die der internationale Turnverband FIG beauftragt hat. „Wir haben die Ad Hoc Regeln dafür entwickelt“, erläuterte FIG-Generalsekretär Nicolas Buompane bei der Eröffnungspressekonferenz der Turn-WM in Jakarta. “Diese Regeln wurden übrigens ein wenig aufgeweicht, es sind jetzt auch Teams erlaubt. Wir müssen uns der Realität stellen. Die Regeln wurden angepasst, um ein bisschen flexibler zu sein. Wir haben einen Mechanismus, der außerhalb der FIG ist. Es ist eine Firma, die darauf spezialisiert ist. Sie überprüfen die Inhalte auf sozialen Medien, Zeitungen, um zu schauen, ob sie etwas finden, dass beweisen könnte, dass diese Person den Konflikt [gemeint ist Russlands Krieg gegen die Ukraine] unterstützt. Basierend auf den Ergebnissen, erstellen sie einen Bericht. Bei uns gibt es eine Gruppe von vier oder fünf Personen, die auf der Grundlage dieses Berichtes den neutralen Status erteilen oder ablehnen.“

Die Namen der Personen, deren Anträge positiv beschieden werden, erscheinen in einer Liste auf der Seite der FIG. Die Gründe für eine Ablehnung werden von der FIG nicht öffentlich gemacht. Das heißt auch: Ist ein Name nicht auf der Liste, ist unklar, ob kein Antrag gestellt wurde oder ob der Antrag abgelehnt wurde. Ein einmal erteilter Status kann wieder aberkannt werden, wenn die Person gegen die Regeln und Bedingungen verstößt. Die FIG drückte in Jakarta ausdrücklich ihre Freude über die Teilnahme Russlands an der WM aus. „Wir sind froh, dass diese beiden Verbände [Belarus und Russland] an unseren Wettkämpfen teilnehmen können. Auch wenn es unter Auflagen ist“, sagte Buompane.

Kandidatin für Einiges Russland

Melnikova gehörte zu den ersten russischen Turnerinnen, deren Antrag auf neutralen Status positiv beschieden wurde. Zu dem Zeitpunkt gab es bereits Bilder aus ihren Auftritten in sozialen Medien, die sie mit den Z-Symbol, das als Unterstützung des Krieges gilt, zeigen. Im Frühjahr kandidierte sie für die Partei Einiges Russland bei den Kommunalwahlen in ihrer Heimatstadt Woronesch. Ihr Wahlvideo findet sich bis heute auf der Seite der Partei, die als Machtinstrument der politischen Führung gilt. Im Juli erklärte Melnikova ihren Rückzug als Kandidatin, da sich der Wahlkampf nicht mehr mit dem Training für internationale Wettkämpfe vereinbaren ließe.

Nach der WM in Jakarta sagte Melnikova, dass sie bis zu den Olympischen Spielen 2028 turnen will. Ein Problem gibt es dabei allerdings noch: European Gymnastics. Der europäische Dachverband hat anders als die FIG Russland und Belarus komplett gesperrt. Für die WM gab es dieses Jahr keine Qualifikation. Das ist nächstes Jahr anders. 2026 wird die Qualifikation für die WM in Rotterdam die Europameisterschaft im August in Zagreb sein. Und in Rotterdam werden bereits die ersten Olympiatickets vergeben. Beim Kongress von European Gymnastics Ende November in Prag wird gewählt. Und das Thema Russland dürfte erneut auf die Tagesordnung kommen. „Unsere Haltung als Verband hat sich da nicht geändert“, sagte DTB-Sportvorstand Thomas Gutekunst dazu in Jakarta“,dass wir uns weiterhin dagegen positioniert haben, dass Russland grundsätzlich teilnimmt.“

In der Sportwelt sah es zuletzt nach einer Bewegung auf Russland zu aus. Das Internationale Paralympische Komitee etwa hatte im September die Teilsuspendierung von Belarus und Russland aufgehoben. Der internationale Ski- und Snowboardverband FIS hat sich hingegen gegen die Teilnahme von Sportler*innen aus Belarus und Russland an FIS-Qualifikationsveranstaltungen für die Olympischen Winterspiele und die Paralympischen Spiele 2026 entschieden.

In der Deutschen Turnliga kann Melnikova starten. Aus rein sportlicher Sicht unbestritten ein Highlight.

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Eine Antwort zu „Coup durch Chemnitz”.

  1. Avatar von Russland zurück in Europa – LeonieGymNews

    […] 4 Verbände enthielten sich der Stimme. European Gymnastics hat insgesamt 50 Mitgliedsverbände. Melnikova hatte am 15. November für den TSV Tittmoning-Chemnitz Bundesliga geturnt und war ursprünglich auch beim 29. November stattfindenden DTL-Finale erwartet worden. Der Verein […]

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